Was passiert heute in China?
Eine Reise durch Süd- und Zentralchina
China hat 1,4 Milliarden Einwohner*innen – es gehört wirtschaftlich
und politisch zu den wichtigsten Akteuren auf dem Planeten. Trotzdem
erfahren wir in den Medien kaum etwas über die Entwicklungen im Land. Jürgen
Kurz, Gründungsmitglied der Grünen, lebt und arbeitet seit über 20 Jahren in China.
Die „wertebasierte Außenpolitik” seiner Partei empfindet er als vorurteilsbehaftet und
destruktiv. Er bietet politische Bildungsreisen nach China an, damit Freund*innen und Mitglieder
der grünen Partei sich einen eigenen Eindruck machen können. IPPNW-Mitglied Sigrun Schulze-Stadler ist mit ihm gereist.
1. Tag: Ankunft in Beijing
Nach zehnstündigem Flug und problemloser Einreise empfängt uns eine gigantische
Flughalle. Als erstes fallen mir der blaue Himmel, das viele Grün und die Sauberkeit
dieser 27-Millionen-Stadt auf – von Smog ist nichts zu sehen. Unser chinesischer
Reiseleiter Hao Lei klärt uns auf: Die Industrie sei aus den Städten verbannt worden.
Jährlich werde für jede Chines*in ein Baum gepflanzt und Elektroautos würden
stark gefördert, zum Beispiel durch ein riesiges Angebot an Ladesäulen. Die Neuzulassungen
betragen ein Drittel aller Autos, etwa zehnmal so viele wie in Deutschland.
2. Tag: Beijing
Unsere Reise beginnt mit der obligatorischen Besichtigung des Tian´anmen-
Platzes und in der Kaiserstadt, danach besuchen wir die Chinesische Freundschaftsgesellschaft für andere Länder. Diese einflussreichen Gesellschaften sind für Handel und Außenbeziehungen zuständig. Jürgens Kontakte öffnen uns überall im Lande die Türen.
Interessant ist auch der Besuch bei der GIZ. Der GIZ-Regionaldirektor
für China und die Mongolei,Thorsten Giehler, sieht ein großes Problem
in der Chinastrategie der Bundesregierung, die die Zusammenarbeit zunehmend
erschwere. Uns erstaunt, dass die GIZ für China seit 25 Jahren eine Beraterfunktion
ausübt und sogar bei der chinesischen Gesetzgebung rechtlich berät.
3. Tag: Beijing – Zhengzhou – Xuchang
Es geht mit dem Highspeed-Train CRH von Beijing nach Zhengzhou – für uns eine
sensationelle Erfahrung. Nach gut zwei Stunden und 800 km sind wir auf die Minute
pünktlich in Zhengzhou.
Zuerst besuchen wir das Provinzmuseum: Henan ist Schauplatz der Entstehung Chinas.
Danach besuchen wir den Ausgangsbahnhof der „neuen Seidenstraße”. Per Containerzug
werden z.B. in zwölf Tagen mit zehn pendelnden Zügen Waren aller Art nach Europa –
auch nach Hamburg – und zurück transportiert.
4. Tag: Xuchang – Nanjie Cun – Dengfeng
Wir beginnen den Tag im Dorf Nanjie Cun, einem Pilgerort für chinesische Touristen.
Das Dorf pflegt weiterhin die Utopie einer kommunistischen Gesellschaft. Wer dort
lebt, arbeitet innerhalb der Dorfgemeinschaft, auf den gemeinsamen Feldern
und in den Betrieben – dafür wird er im Gegenzug komplett versorgt: Freie Wohnung,
Lebensmittel, Krankenversicherung, ärztliche Versorgung, Schule etc. Zu sehen
sind Wandzeitungen mit Marx, Engels, Mao, Lenin und Stalin.
Nachmittags in Dengfeng sehen wir das nach der Kulturrevolution neu aufgebaute
Shaolin-Kloster. Wir werden, für uns eine große Ehre, von dem Abt freundlich
empfangen. Am Abend besuchen wir eine fantastische Shaolin-Freiluftshow vor der
atemberaubenden Bergkulisse des Song-Gebirges.
5. Tag: Dengfeng – Luyang – Bengbu
Heute geht es zu den im fünften Jahrhundert entstandenen Longmen-Grotten am
Yihe-Fluss in Luoyang, einem Weltkulturerbe mit über 100.000 Buddhastatuen –
die größte ist 17 Meter hoch, die kleinste zwei Zentimeter.
Per Highspeed-Zug fahren wir dann in drei Stunden ca. 1.000 km nach Bengbu.
6. Tag: Bengbu – Xiaogang Cun – Nanjing
Die Aufmerksamkeit für unsere Reise wächst: Nach mehreren Zeitungsberichten
sieht man uns sogar in den Abendnachrichten. Überraschend frühstückt der Parteisekretär
von Bengbu mit uns und zeigt uns am Beispiel des Huaihe-Flusses, wie
in China die ökologische Modernisierung vorangetrieben wird. Durch ein Renaturierungsprojekt
am vermüllten Ufer des Huaihe wurde innerhalb von 18 Monaten
eine ökologische Naherholungslandschaft geschaffen.
Weiter geht es zu BBCA, einer innovativen Firma, die global einen Beitrag
zur Dekarbonisierung leisten will. Dort werden Kunststoffe und Fasern für Kleidung
aus organischem Material (Mais- und Kartoffelstroh) herstellt. Diese Produkte sind in
der EU jedoch noch durch Regularien blockiert. Der große Gegenspieler ist die mineralölverarbeitende
Kunststoffindustrie. Uns beeindruckt die Vielzahl der hergestellten
Produkte, die alle natürlich abbaubar sind.
Chinas Agrarreformen gehen auf das Dorf Xiaogang Cun zurück. Nachdem die Kollektivierung der Landwirtschaft
eine Hungersnot ausgelöst hatte, trafen die Bauern des Dorfes 1978 eine heimliche Vereinbarung, das kollektiv
bewirtschaftete Ackerland wieder in Familienparzellen aufzuteilen. So erreichten sie einen drastischen Anstieg der
Getreideernte. Das Dorf wurde daraufhin zum Modell für die chinesische Privatisierungspolitik.
7. Tag: Nanjing – Liuzhou
Wir besuchen das Nanjing Massacre Museum, das an die Eroberung Nanjings
durch die Japaner 1937 und an die dort verübten Kriegsverbrechen durch die japanische
Armee erinnert, für die sich Japan bis heute offiziell nicht entschuldigt hat.
Die nächste Station ist das Haus von John Rabe, einem deutschen Manager von Siemens
China. Wir erfahren, dass er während des Massakers von Nanjing 1937-38 eine
Schutzzone für die chinesische Zivilbevölkerung auf dem deutschen Industriegelände
eingerichtet hat, das von japanischen Soldaten nicht betreten werden konnte.
Auf diese Weise rettete er über 100.000 Menschen das Leben.
8. Tag: Liuzhou – Sanjiang
Wir besuchen den E-Auto-Hersteller Wuling. 2017 wurde hier der erste E-Wagen
gebaut. Er war einfach ausgestattet, hat aber großen Absatz gefunden und die
Elektromobilität in China vorangetrieben. Wuling war in China zeitweise der Hersteller,
der die meisten E-Autos verkaufte.
Nachmittags kommen wir in die wunderschöne Region Sanjiang Dong, eine
Minderheitenregion, wo die herrschende Armut mit Teeanbau und Tourismus bekämpft
werden soll. Die chinesische Verfassung verpflichtet die Regierung, Arbeit für
die Minderheitenbevölkerung zu schaffen.
9. Tag: Sanjiang – Longsheng – Guilin
Thema ist die Armutsbekämpfung in Guangxi, einer der ärmsten Provinzen Chinas.
In Longsheng leben Bauern der Dong-Minderheit, die früher von Reis- und Gemüseanbau
lebten. Sie wurden auf den Anbau von Tee umgeschult, ein erfolgreiches Projekt,
da dieser hier besonders gut wächst. Das Dorf lebt auch vom Tourismus und
ist heute ein Modell für andere Dörfer, die auf Teeanbau umsteigen. Weiter geht es in
das Dorf Ping&rsquoan der Zhuang-Minderheit, die Reisterrassen betreibt: eine harte Art
des Reisanbaus in einer atemberaubenden Landschaft. Seit 1990 wird der Tourismus
hier entwickelt, was die ökonomische Lage der Menschen verbessert hat.
10. Tag: Guilin
Dieser Tag führt uns durch die Stadt Guilin, die wegen ihrer landschaftlichen Schönheit
eine touristische Top-Adresse ist. Die Hauptattraktion ist die bizarre Karstlandschaft,
die auch eindrucksvoll im örtlichen Minderheitenmuseum dargestellt wird.
11. Tag: Shenzhen
Wir fahren durch den Megacampus der Firma Huawei, der uns schon äußerlich
durch seine ökologische Bauweise fasziniert. Wir sehen ihr digitales Engagement
für den Bau von digitalen Städten der Zukunft, sowie in einer Unzahl von Industrien
und Anlagen für alternativen Strom und bestaunen Technologien, die in Europa
noch nicht auf dem Markt sind, z.B. eine superschnelle Ladetechnologie für E-Autos
mit mehr als 900 Volt Ladespannung arbeitet,mit der man in fünf Minuten Batterien
für Reichweiten über 1.000 Kilometer aufladen kann.
Huawei-Komponenten sind weltweit in mehr als 46 % der kommerziellen
5G-Netzwerke verbaut, auf die die chinesische Regierung keinen Zugriff haben
kann, was jeder Netzwerkexperte bestätigt.
Uns wird auch ein ferngesteuerter Bagger gezeigt, der autonom fahrende LKWs belädt.
Carsten Senz, Sinologe und Vize-Marketingdirektor für Deutschland, erklärt, welche
Firmenphilosophie Huawei zum Erfolg verholfen hat. Zwei Drittel des Gewinns
des Privatunternehmens werden laut Senz den Mitarbeiter*innen jedes Jahr für den
Kauf von Eigentumsanteilen angeboten – ein Drittel werde reinvestiert. Für die
12.5000 Beschäftigten sei das ein starker Arbeitsanreiz. Langjährige Mitarbeiter*innen
können am Huawei Ox Horn Campus preiswert eine Wohnung erwerben. Dort
wurden auch 20 europäische Städte nachgebildet, deren Gebäude heute als Büros
für die Forschung dienen. Wir ziehen durch die Nachahmungen von Verona, Paris,
Bologna, Granada und Heidelberg. Wir sehen auch die 150 m langen Fertigungsstraßen
des aktuellen „Mate 60”, wo täglich 2.700 Smartphones vom Band laufen.
Abends führen wir Diskussionen, in denen uns klar wird, wie weit chinesische Unternehmen
in einigen Branchen Europa überflügelt haben und wie hilflos die EU darauf reagiert.
12. Tag: Shenzhen – Shanghai
Unsere Reise endet in Shanghai: mit einer Sightseeingtour an der Uferpromenade
The Bund, durch die historische Altstadt und den Park Yu Garden. Abends feiern
wir Abschied. Wir sind begeistert von unseren Erlebnissen. Wir hatten uns China
nicht so modern, gastfreundlich, grün und sauber vorgestellt. Auch haben wir eine
Idee von den politischen Abläufen dort bekommen und in vielen Diskussionen mit
den Menschen Antworten auf unsere Fragen zu Armut, Minderheiten, Bürgerrechten,
Taiwan und Militarisierung bekommen – oft überraschende, nicht immer völlig zufriedenstellende.
Insgesamt war die Reise lehrreich und spannend.
Sigrun Schulze-Stadler
|